Einer der Letzten – Holocaustüberlebender gibt Vortrag am Hölty-Gymnasium
Es gibt Margot Friedländer, 1921 geboren, entkam dem Konzentrationslager Theresienstadt, sie lebt noch. Es gibt Traute Lafrenz, 1919 geboren, leistete verbotenen Widerstand in der „Weißen Rose“, auch sie lebt noch. Es gibt viele weitere Menschen, die ausgegrenzt, diffamiert, umgebracht wurden oder im Laufe der Zeit durch ihr Alter aus dem Leben scheiden. So wird einem bewusst, dass selbst überlebte Widerständler, Juden, Zeitzeugen wie Esther Bejarano (1924-1921) oder Trude Simonsohn (1921-2022) auch nur ein endliches Leben haben. Sie überleben teils, leben weiter, schreiben Bücher, halten Vorträge, haben in ihren 90ern, manchmal sogar 100ern noch Bedürfnis und Kraft, ihre Geschichte zu erzählen, doch irgendwann kommt der Tag, wo der letzte Zeuge aus der Zeit des Hitler-Regimes aufhört zu leben.
Selbst wenn das jedoch eingetroffen sein wird, wird es Zeugen der Zeugen geben. Und einen davon durfte ich inmitten einer von Achtklässlern vollgefüllten Aula sein, sowie viele höhere Jahrgänge in der Videokonferenz. Ivar Buterfas-Frankenthal und seine Frau waren dort. Als 12-Jähriger zum Ende des Krieges war er zwar noch jung, der Jüngste aller acht Kinder, dennoch hatte er genug Kontakt mit Ausgrenzung, Diskriminierung im Kindesalter. Nachdem das Paar von Frau Mares und Herrn Conrad begrüßt worden war, begann der Hanseat unbefangen von sich und seiner Geschichte zu erzählen. „Mein Vater war Jude, meine Mutter christlich“, begann Buterfas-Frankenthal zu erklären, „demnach waren wir, die acht Kinder, nach den Nürnberger Rassegesetzen Halbjuden. Und Untermenschen“. Er stieg ein und begann seine erste längere Geschichte damit, von jedem seiner Geschwister zu erzählen; von Ursel, Kurt, Alice, Rolf und den anderen. Davon, wie sein Vater später ins KZ Sachsenhausen gebracht wurde und wie seine Schwester Ursel ihm alles zu erklären versuchte. Von dem normalen, friedlichen Großfamilienleben leitete er zu den härteren Geschichten seiner frühen Adoleszenz über. In der ersten Klasse: „(…) und dann kam der Schulleiter und sagte: ,Tritt mal hervor, Buterfas. Du wirst nicht mit auf Klassenfahrt kommen. Du bist Jude, du verpestest die Luft.’“ Sowie von der Situation, die -so erklärte er später- von allen am schlimmsten war. Ihretwegen steht er nachts auf und schleicht sich aus dem gemeinsamen Schlafzimmer. Eine Begegnung aus seiner Grundschulzeit. Man beachte erneut: er war vermutlich allerhöchstens acht Jahre alt. Seine Mitschüler hatten das Rost eines Schuhabtreters heruntergenommen, auf die darunterliegende Matte Papier gelegt, dieses angezündet, das Rost wieder draufgelegt und Ivar daraufgesetzt. Sie haben ihn gegrillt. Alle haben zugesehen. Meine spätere Frage, wer sich seiner annahm, beantwortete er dann mit Erwachsenen, die dann dazukamen. Nicht seine Mitschüler.
Zwischendurch zeigte Frau Buterfas-Frankenthal im multiperspektivischen Vortrag auch Dokumente, einen Fremdenausweis und ihre Judensterne. Sie erzählten von ihrer Reise des Vortraghaltens: „Wir haben 17 deutsche Städte aufgesucht“, „(…) deswegen haben wir nun insgesamt 1590 Auftritte in 30 Jahren gemacht“, „ich habe 5000-6000 Briefe bekommen. Die kann ich gar nicht alle beantworten“.
Was mich besonders an der Weise des Redens an diesem Mann begeistert hat, war die Tatsache, dass er seine Erfahrungen in Fazite, Appelle transferiert hat. Er hat uns angeschaut. Er hat zu uns, mit uns gesprochen. Bei seinem „Seid dankbar“-Appell sagte er bspw.: „(…) und heute (…) leben wir in einem so guten Staat. Dort (er zeigte auf einen Jungen eine Reihe entfernt von mir) könnte der nächste Kanzler sitzen, sie (sein Finger ging zur anderen Aulahälfte) könnte Pilotin sein“, das Publikum schmunzelte etwas, „ja! Wo ist das Problem?“. Später ergänzte er: „Ihr seid so gespannt eingestellt (…), und wenn ich eure wachen Augen und euer Interesse sehe – das ist einfach fantastisch. Deswegen werde ich das auch machen, bis ich irgendwann einmal an meinem Schreibtisch einschlafen werde“.
Auch ging es zum Ende hin um die politischen und gesellschaftlichen Menschen. Damals und auch heute. Er las aus einem Buch über Albert Speer, den -so er- „Lieblingsarchitekten“ Hitlers, vor. Er beschrieb einen SS-Offizier: „der hat (…) stolz davon berichtet, wie er Kinder wie Bilder aufgehängt hat, er, der SS-Mann, hätte gesagt ,und weil sie sich nicht selbst erdrosseln konnten, haben wir (…) nachgeholfen’ “. „Und so einer“, sagte Buterfas, „feierte am 24. Dezember Weihnachten und sang mit seinen Kindern „Stille Nacht, heilige Nacht““. Für jene, die solche Vorträge über Antisemitismus, Rechtsradikalismus in Frage stellen, kam er mit dem „Fall Walter Lübcke“, dem Angriff auf eine Synagoge in Halle 2019 und einem jüdischen Jungen, dem vor kurzem ins Gesicht getreten wurde. „Auf einem Auge hat er sein Augenlicht schon verloren, ich war vor kurzem bei ihm. Hoffentlich kann er das andere behalten.“ Sein Hauptsatz zum Abschluss des Kapitels Nationalsozialismus in Deutschland ist häufig: „Es gibt (…) keine Kollektivschuld, aber eine Kollektivscham.“ Ich muss eingestehen. Bei dem Jungen, seinem „Rösten“ in der Kindheit, dem SS-Offizier, all diesen Geschichten – natürlich fühlt man da eine Scham, eine kolossale Fremdscham.
Nach vielen Geschichten über seine Begegnungen mit Prominenz, mit dem Ehepaar Schmidt, Kohl, Rau, von Weizsäcker etc., ließ er zum Ende Raum für Fragen. Er bat Herrn Hellwig darum, ihm die gestellten Fragen jedes Mal in sein Ohr zu flüstern, er und seine Frau seien zwar gehandycapt, jedoch wollte er „keine Frage mit einer dummen Antwort quittieren“. Da zeigte sich auch zum Ende, was ihm daran lag. Der ersten Jungen, David, frug: „Wer ist heute das älteste von ihren Geschwisterchen?“ Er, der Jüngste aller acht, lehnte sich zu David und sprach: „Du wirst staunen. Das bin heute ich.“ Danach gab er dem mutigen Ersten ein signiertes Buch. Weit über die geplanten zwei Schulstunden, konnte Buterfas nur noch drei Fragen zulassen, danach ließ er aber nochmal drei zu. Die letzte der ersten letzten drei Fragen sollte von dem auf der Bühne stehendem Herrn Hellwig ausgesucht werden. Er hätte ein Mädchen weiter hinten fast drangenommen, da zeigte Buterfas auf mich, der ich vor ihm saß. Aus reinem Zufall war ich über die Schülerzeitung vor die Menge der Achtklässler gelangt. Sonst hätte ich auch vor dem Bildschirm im C-Trakt gesessen. Herr Conrad hatte mich gefragt. So saß ich wider Vorstellung an diesem Morgen direkt vorne, erste Reihe vor dem Tisch vom Ehepaar Buterfas. Jedenfalls war Hellwig im Begriff hinten aufzurufen, da sagte Ivar Buterfas-Frankenthal: „Komm. Stell deine Frage! Wir tauschen doch ohnehin die ganze Zeit schon Blicke aus.“ Auch zuvor hatte er beim Thema „Schule von heute“ gesagt, dass er gerne genau dort gesessen hatte, wo ich saß.
Werde ich irgendwann einmal gefragt, was im Leben hängen bleibt, so werde ich damit antworten. Das. Genau das. Dieser Mann und seine Form Interesse am Publikum, am Schüler, am Menschen zu haben war und ist einzigartig und ich kann nicht in Worte fassen, von welcher Bedeutung seine Informationen und sein Vermächtnis sein werden. Ich folge ihm und appelliere: „Hört diesen Menschen zu und besucht einen ihrer Vorträge!“ Das sage ich nicht nur als vor ihm Sitzender, der auf mich eingegangen ist oder als Geschichtsinteressierter, sondern als einer der begeistert rein und geprägt wieder raus gegangen ist.
Jesper Schwarzer